Erzähl mir von Dir – oder wie man Erinnerungen schafft

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Es war der 20. Dezember 2004 – die Beerdigung meines Opas. Ich weiß es noch wie heute, als ich dort mit vielen anderen Menschen in der Aussegnungshalle saß und mich von ihm verabschiedete.

Der weltliche Redner erzählte aus dem Leben meines Großvaters und mit jedem Wort mehr versiegten die Tränen. Dafür wuchs die Fassungslosigkeit darüber, wie wenig ich doch über das Leben meines Opas wußte.

DAS Alles hat mein Opa erlebt? Die behütete Kinderzeit im Bayerischen Wald, der spätere Kriegseinsatz und Gefangenschaft in einem Konzentrationslager? Ein Umzug weg von Bayern in den Pott, um dort viele Jahre unter Tage zu arbeiten? Die Rückkehr nach Bayern und somit ein Neubeginn in der Heimat.

Warum verdammt hatte mir das keiner bisher erzählt. Und warum hatte ich mit meinen damals 28 Jahren nicht schon längst danach gefragt?

Seit dieser Zeit frage ich nach. Und höre dennoch oft nur das, was ich schon kenne. Aber gebe ich nicht auf.

Nach wie vor höre ich von meiner Oma immer wieder dieselben Geschichten. „Weißt Du noch, wie Opa Dir das Schwimmen beibrachte? Weißt Du noch, als die Kühe damals in der Ferienwohnung ausbrachen und Du mit Opa flüchten mußtest? Kannst Du Dich Dich noch an den Urlaub in Rumänien erinnern, an dem Du Deinen Asthmaanfall hattest? Du warst sein größtes Glück – seine Maus“.

Nicht nur das Schöne zählt

Ja verdammt! Das weiß ich alles. All das sind Geschehnisse, an die ich mich selbst erinnern kann. Einfach, weil da schon alt genug war. Etwaige Lücken werden von Hunderten von Fotos geschlossen. Und weil mir mein Opa oft selbst sagte, wie lieb er mich hat.

Ich weiß aber nach wie vor nichts von meiner Oma. Wie ist sie aufgewachsen? Was hat sie im Krieg erlebt? Wie ging sie mit der frühen Schwangerschaft mit meinem Dad um? Hat Ihr die Zeit im Ruhrpott gefallen? Was waren Ihre Träume und Wünsche und konnte sie sich davon etwas erfüllen?

Alle diese Fragen habe ich Ihr schon gestellt, aber noch nie eine richtige Antwort erhalten. Innerhalb weniger Sekunden erzählt sie wieder die alten Geschichten (von mir). So als wollte sie die andere Zeit vergessen. Frage ich weiter nach, tut sie so, als würde sie mich nicht hören. Auch wenn ich weiß, daß sie mich mit ihren 87 Jahren noch wunderbar versteht.

Leider können mir hier aber auch mein Dad und mein Onkel nicht weiterhelfen. Auch sie wissen nur das, an was sie sich selbst erinnern können. Auch ihnen erzählt meine Großmutter nichts.

Und weil dem so ist, ist es auch für sie schwer, von sich selbst zu erzählen. Aber da lasse ich nicht locker und so weiß ich zumindest über meinen Dad ein paar Dinge aus seiner Vergangenheit.

Von meinen Großeltern mütterlicherseits habe ich selbst nie erfahren, wie sie ihr Leben verbracht haben. Als sie starben, war ich auch einfach noch zu jung.

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Ein Bild meiner Großeltern mit meiner Mama und meinem inzwischen ebenfalls verstorbenen Onkel

Erinnerungen schaffen

Zum Glück gibt es hier aber meine Mama. Von Ihr weiß ich, wie meine Groß- und Urgroßeltern gelebt haben. Von Ihr habe ich Bilder erhalten, die aus den Jahren 1930 und aufwärts sind. Briefe – die aus der Nazizeit stammen und die Hinrichtung eines Arztes aus Ihrer Heimat im Niederbayerischen dokumentieren.

Erhalten hat sie diese wohl von meinem Urgroßvater, der 1945 der erste Bürgermeister in eben diesem Ort nach dem Krieg war.

Von Ihr weiß ich auch, wie sie mit meinen Großeltern gelebt hat. Das Opa vorher schon mal verheiratet war und ich eigentlich drei Stieftanten habe. An welchen Bauwerken mein Opa beteiligt war. Über das Leben von Oma und als sie aus Berlin in die bayerische Provinz kam.

Wie meine Mom selbst aufgewachsen ist, wer ihre Freunde waren. Ob Schulzeit oder Ausbildung, erste Liebe oder dann das Kennenlernen meines Paps. Ihre Träume, die nicht erfüllten Wünsche. Ich weiß über ihre traumatische Zeit genauso Bescheid, wie über ihre glücklichsten Tage.

Natürlich weiß ich von ihr auch, wie meine Baby- und Kleinkindzeit war. Die Zeit eben, die mir „fehlt“ und an die ich mich nicht erinnern kann.

Jede einzelne Erzählung ist wichtig für mich. Und ich bin froh darüber, wenigstens einen Menschen in meiner großen Familie zu haben, der aus der Vergangenheit erzählt.

Erzähl mir von Dir…

Auch ich erzähle meinem 15jährigen schon, wie es „Früher“ war. Das was ich selber aus Erzählungen weiß und von meinem Leben. Ich denke, daß es ihn jetzt noch nicht so interessiert. Aber der Tag kommt – und dann erinnert er sich vielleicht. Und er kann nachlesen. In meinen Tagebüchern oder vielleicht auch hier auf dem Blog.

Seit dem Tag Ende Dezember 2004 kann ich nur jedem raten nachzufragen. Fragt Eure (Ur-)Großeltern, Tanten, Onkel und Eltern – ach Eure ganze Familie – wie es „damals“ war.

Fangt einfach an mit „Erzähl mir von Dir…“.

18 comments

  1. ina 26 Mai, 2018 at 13:40 Reply

    Schön geschrieben! Ich glaube einfach die Generation unserer Großeltern, hat gerade die Zeit des Nationalsozialismus und die Jahre des Krieges selbst noch nicht verarbeitet und schämt sich teilweise für das Geschehene, das sie darüber nicht erzählen wollen.Ich habe sehr viel mit dieser Generation gesprochen und ganz, ganz viele möchte über diese Zeit nicht reden und das Recht müssen wir ihnen einfach einräumen. Ich habe auch mit vielen Überlebenden von KZs gesprochen und auch sie könne nicht darüber reden oder haben er sehr spät angefangen. Besonders erinnere ich mich da an Gespräche mit Max Mannheimer, der erst angefangen hat in den 80iger Jahren zu reden. Ich selbst weiß auch sehr wenig über meine Großeltern,die Elterlicher seits habe ich nie kennengelernt und Mütterlicherseits sind auch schon gestorben,da war ich noch nicht alt genug um zu fragen.
    Wir erzählen unseren Kinder viel von früher, was bei uns ja dann auch aus einem Staat ist den es gar nicht mehr gibt. Dadurch das sie Museumsbesuche lieben entstehen in diesem Zusammenhang immer schöne Gespräche und Diskussionen.

    LG aus Norwegen
    Ina

    • storfinenblog 27 Mai, 2018 at 10:09 Reply

      Liebe Ina,
      danke für Deinen tollen Kommentar.
      Ja, da hast Du sicher Recht, dass die Menschen vielleicht auch nicht über die NS-Zeit sprechen wollen. Auch, weil sie viel Schreckliches zu der Zeit erleben mussten. Das Recht räume ich auch jedem ein. Aber es gibt ja auch die schönen Dinge, über die jetzt meine Oma z. B. sprechen könnte. Aber auch da kommt nichts. Sie erzählt immer und immer wieder selbiges (ca. ab 1980). Da weiß ich aber schon viel selber.

      Ich finde es toll, dass Eure Kinder da so interessiert sind und Ihr Ihnen auch alles Wissen an die Hand gebt, um sich zu erinnern.

      Herzliche Grüße an Dich
      Sandra

    • storfinenblog 27 Mai, 2018 at 09:59 Reply

      Das ist schön, dass Deine Großeltern Dir erzählt haben.
      Ich glaube, da nimmt man wirklich viel mit.

      Liebe Wochenendgrüße an Dich

  2. L♥ebe was ist 26 Mai, 2018 at 17:10 Reply

    was für ein wundervoller Appell liebe Sandra! ich darf mich glücklich schätzen, dass mir meine Mama – und natürlich auch Papa – auch immer schon viel von ihrer eigenen Vergangenheit und der ihrer Familie erzählt haben … leider habe ich die meisten meiner Vorfahren nämlich nicht mehr kennenlernen dürfen oder sie sind so früh gestorben, dass ich keine (eigenen) Erinnerungen habe …

    ich liebe es aber auch immer wieder mir die alten Schwarz-Weiß-Fotos anzuschauen – und zu staunen, wie Mama und Papa früher aussahen und welche Trend sie mitgemacht haben 😉

    liebste Grüße auch,
    ❤ Tina von liebewasist.com
    Liebe was ist auf Instagram

    • storfinenblog 27 Mai, 2018 at 10:18 Reply

      Liebe Tina,
      schön, dass Dir Deine Eltern von “früher” erzählen. Egal wer die Erinnerungen teilt, hauptsache sie sind da.

      Hach ja – die SW-Fotos. Ich bin stundenlang für der Kiste gesessen und habe geschaut und geschmunzelt. Bei vielen Fotos weiß ich, wer darauf zu sehen ist. Bei einigen muss ich noch meine Mama fragen. Es ist einfach wunderbar zu erfahren, wie es früher war.

      Viele liebe Grüße an Dich
      Sandra

  3. Julia 26 Mai, 2018 at 18:33 Reply

    Ich finde das sehr wichtig von früher zu Erfarhren. Habe meinen Großeltern immer gerne zugehört
    Aber auch heute höre ich älteren Menschen gerne zu, m mehr vom Leben damals zu erfahren. Es ist interessant und man kann sich so ein Bild machen.

    Liebe Grüße
    Julia

    • storfinenblog 27 Mai, 2018 at 10:00 Reply

      Oh ja,

      das stimmt. Man sollte ältern Leuten wirklich viel mehr zuhören und sie nicht einfach als “alt” abtun.
      Sie haben schließlich schon viel mehr als wir erlebt und ich bin froh, mich auch durch sie zu erinnern.

      Liebe Grüße

    • storfinenblog 27 Mai, 2018 at 10:01 Reply

      Das ist ja auch eine tolle Idee. Da kamen sicher viele spannende “Geschichten” und Erinnerungen auf.
      Ich glaub, das mache ich zum 88. meiner Oma auch. Vielleicht erzählt sie dann mehr?

      Liebe Sonntagsgrüße

  4. Avaganza 26 Mai, 2018 at 22:55 Reply

    Ich habe mit meinen Großeltern sehr viel über frühere Zeiten geredet und mir sehr viel erzählen lassen. Es war mir wichtig Dinge zu wissen und zu verstehen. Ich habe die Geschichten der Kindheit meiner Omi immer sehr geliebt. Das sollte wirklich jeder machen.

    Liebe Grüße
    Verena

    • storfinenblog 27 Mai, 2018 at 10:11 Reply

      Liebe Verena,
      wie schön, dass Du diese Erlebnisse mit Deinen Großeltern hattest.
      Da gabs es bestimmt viele Geschichten, die Dich auch ein wenig zu dem gemacht haben, wie Du heute bist.

      Alles Liebe
      Sandra

  5. Julia 26 Mai, 2018 at 23:21 Reply

    Besonders wenn geliebte Menschen gehen, merkt man, dass man manchmal viel zu wenig über ihr Leben erfahren hat. Schöner Beitrag!
    Julia

    • storfinenblog 27 Mai, 2018 at 10:03 Reply

      Danke liebe Julia!
      Leider ist das oftmals so. Daher werde ich meine Familie immer weiter “nerven” um möglichst viel zu erfahren.
      Viele Grüße an Dich!

  6. Nadine von tantedine.de 27 Mai, 2018 at 00:03 Reply

    Sehr schön 🙂 Mein Opa konnte mir leider nicht mehr so viel erzählen weil er schon sehr früh verstorben ist. Aber an ein paar Dinge kann ich mich noch erinnern von denen er erzäht hat. Ich erzähle aber meiner Nichte immer gerne wie es war, als ich ein Teenager war. Sie kann es gar nicht glauben, dass es früher keine Handys oder Wlan gab 😀

    Liebe Grüße
    Nadine von tantedine.de

    • storfinenblog 27 Mai, 2018 at 10:05 Reply

      Meine Oma (auf dem Foto unten) ist auch viel zu früh gestorben. Von meinem Opa hab ich da schon mehr erfahren. Und eben von meinen Großeltern väterlichseits verdammt wenig.

      Mir gehts mit Sohnemann genauso. Der glaubt mir auch nie, wie es war, als ich in seinem Alter war.

      Ich schick Dir liebe Grüße
      Sandra

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